8/2014 - 2/2016

Prof. Dr. Karlheinz Thimm / Otto Dieners-Konerth

Veröffentlichung:
Der Abschlussbericht ist hier abrufbar; Anhänge zum Bericht: 
1 Instrumente Verfahren
2 Instrumente Evaluation
3 Broschüre
4 Informationsmaterial

 

Bearbeiter/-innen und Beteiligte

Das Projekt Lernrat war ein Praxisentwicklungs- und Evaluationsvorhaben zur Förderung von Schüler/-innen zwischen neun und vierzehn Jahren (Kernzielgruppe). Die Laufzeit des Projektes an den Standorten betrug 19 Monate. Anschließend wurden die Forschungsdaten ausgewertet und die Verbreitung der Erkenntnisse und des Verfahrens wurden beplant. Besonders bedeutsam für das Selbstverständnis und Profil sowie die Wirksamkeit des Verfahrens sind
(1) die Aktivierung der jungen Menschen und die Stärkung der Übernahme von Verantwortung für das eigene Lernen,
(2) die Verknüpfung des Systems Schule mit den Lebenswelten der jungen Menschen, (3) die Schaffung eines Unterstützungsnetzwerkes.
Im Mittelpunkt steht gemäß des Grundansatzes ein/e Schüler/-in, die/der mit seinem/ihrem Lernerfolg bzw. der sozialen Position in der Schule unzufrieden ist und von der/dem Lehrkräfte ggf. den Eindruck haben, dass die Kompetenzentwicklung stagniert bzw. sie in der Zusammenarbeit mit ihr/ihm an erhebliche Grenzen stoßen. Zum Lernrat kommen Menschen zusammen, von denen der Junge bzw. das Mädchen denkt, dass sie für eine positivere Entwicklung von Bedeutung sind: Freunde und Mitschüler/-innen, Lehrkräfte, Eltern, Verwandte, weitere relevante Andere. Ziele des Lernrates sind, Ansatzpunkte zur Verbesserung der Lernentwicklung vor allem aus Ressourcen, aber auch Entwicklungshindernisse aufzuspüren und anschließend Verabredungen darüber zu treffen, was zur Umsetzung der Veränderungsideen zwecks Milderung der Barrieren getan werden soll. Kurz: Der Lernrat kann eingesetzt werden, um Schüler/-innen neu für das Lernen zu motivieren und bei primär selbst gewünschten Verhaltensänderungen zu begleiten.

 

Eine Besonderheit des Projekts Lernrat lag darin, dass Praxisentwicklung und Praxisevaluation von Anfang an eng verzahnt wurden, so dass kein Nacheinander von Erkenntnisgewinn und Praxisgestaltung angelegt war, sondern wissenschaftliche Begleitung ein die Praxisgestaltung flankierendes, unmittelbar prägendes Qualitätsmerkmal sein sollte (summative und formative Evaluation). An zunächst vier, später dann fünf Schulstandorten im Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg wurde die pädagogische und strukturelle Implementierung des Verfahrens Lernrat beraten, qualifiziert und evaluiert. Die Schulen sind: Otto-Wels-Grundschule; Rosa-Parks-Grundschule; Charlotte-Salomon-Grundschule; Albrecht-von-Graefe-Schule; zum Projektende hin kam die Ellen-Key-Schule dazu. Kooperationspartner waren neben den Schulen der Träger Pestalozzi-Fröbel-Haus (PFH) mit seinen Schulsozialarbeiter/-innen und das INIB e.V. an der Evangelischen Hochschule Berlin. Für die Modellphase stand mit dem Pestalozzi-Fröbel-Haus ein anerkannter Partner zur Verfügung, der über Fachlichkeit, Erfahrung und Renommee sowie Zugang und Vertrauensvorschuss in Schule und Jugendhilfe verfügt.

 

Das Projekt wurde planerisch in zwei Phasen aufgeteilt: Implementierung an Modellstandorten und begleitende Evaluation (Phase 1) und Verbreitung (Phase 2). Ziele des Gesamtprojekts im Rahmen der Praxisentwicklung und Evaluation waren:

  • Konzeptentwicklung für das Verfahren
  • Bekanntmachung und Einpflanzung an den vier beteiligten Standorten
  • Durchführung von Lernräten mit kollegialer Beratung, Auswertung und Konzeptüberprüfung
  • Überprüfung des Nutzens des Lernrats für junge Menschen und ihre Eltern
  • Klärung von Bedingungen für einen günstigen Einsatz
  • Ergebnisaufbereitung, Präsentation und schulprogrammgestützte Implementierung bei Bewährung des Verfahrens an den Standorten und darüber hinaus.

 

Evaluationsumfang, -fragen und -methoden

Geplant war, mindestens 15 Lernrat-Prozesse unterschiedlichen Umfangs qualifiziert durchzuführen und zu evaluieren. Dabei sollte die Koordination der Lernräte durch Fachkräfte an den Schulen (Schulsozialarbeiter/-in, ggf. gemeinsam mit einer Lehrkraft) und ggf. in Teilen durch einen für die Modellphase eingestellten externen Mitarbeiter vorgenommen werden. Im Projektverlauf wurde die Soll-Zahl auf 26 Prozesse erhöht, um eine möglichst große Bandbreite von Ausgangskonstellationen und Verläufen zugrundelegen zu können und damit empirisch belastbarere Aussagen treffen zu können.

Die Untersuchungsfrage lautete: Ist der Lernrat ein geeignetes Mittel, Jungen und Mädchen, Personensorgeberechtigte (insbesondere Eltern), Lehrer/-innen, Fachkräfte und weitere relevante Personen über die Zentralsetzung der Schüler/-innen zu beteiligen bzw. zu aktivieren und deren Beiträge zu koordinieren, um bedrohte Lern- und Leistungsentwicklungen einzelner junger Menschen positiv zu wenden? Untergliedert wurde wie folgt:
(1) Konzeptevaluation
Kann der Lernrat Profil neben anderen Formaten (Schulhilfekonferenz, Fallbesprechung, Hilfeplanung, Förderplanverfahren) gewinnen?
Ist die Ablaufstruktur realistisch und nützlich und welche Modifikationen werden als günstig eingeschätzt?
(2) Prozess- und Ergebnisevaluation
Wird der Lernrat nachgefragt?
Welche Ausgestaltungsfaktoren geben den Ausschlag für den Grad der Akzeptanz?
Welche Gelingensfaktoren sowie Hindernisse lassen sich auf der Ebene der Durchführung einzelner Lernräte identifizieren?
Eingesetzt wurden die Methoden des schriftlichen Fragebogens, der offenen teilnehmenden Beobachtung und des Experteninterviews.

 

Zusammenfassung wichtiger Erkenntnisse

(1) Der Lernrat wirkt primär durch das Klima, das er erzeugt und entfaltet..
(2) Strukturierung und Standardisierung sichern Verfahrensqualität.
(3) Junge Menschen, Sorgeberechtigte und Fachkräfte erleben sich gleichermaßen angesprochen.
(4) Eltern erfahren durch den dialogischen Geist und die kooperative und koproduktive Aktionsplanung Wertschätzung.
(5) Stellschrauben der Verfahrensgestaltung sind:
+ Haltungen und Kompetenzen
+ Zeitressourcen
+ Stellung und Status der Schulsozialarbeit am Standort
+ Strukturtreue
+ Vorbereitung
+ Umsetzungsbegleitung
(6) Projektgruppe, Projektleitung, Durchführung sind standortspezifisch auszuhandeln und zu verteilen.
(7) Lernräte können scheitern durch
+ Zu hohe Problemkomplexität
+ Ungünstige Erwachsenen-, d.h. v.a. Eltern- und Lehrerdominanz
+ Zu schwache Grundmotivation bei Schüler/-innen
+ Fehlende Erinnerungen und Unterstützungen
(8) Der Lernrat ergänzt bestehende Verfahren durch Eigenheiten.
(9) Erwartbare Hindernisse sind:
+ Gesagt ist nicht getan
+ Zufriedenheit nicht gleich Verhaltenseffekt
+ Verhältnis von Aufwand und Ertrag
+ Terminierungskoordination
+ Doppelrolle Moderation / Dokumentation
+ Qualität zugesagter Unterstützung (zu viel=Überforderung, zu wenig=Alleinlassen von Jungen und Mädchen)

 

Das Verfahren Lernrat konnte modellhaft erprobt werden und es hat sich bewährt. Selbst unter günstigen Bedingungen (Sonderressourcen; Qualifizierung; Teamzusammenhang; Trägerinteresse; Hilfestellungen und Assistenzdienste durch eine externe Fachkraft) musste sich der Lernrat mit Blick auf die limitierten Zeitbudgets und eine Fülle konkurrierender Herausforderungen in der Implementierung und im Regelalltag behaupten. Das gelang, weil das Verfahren an sich und aus sich heraus Strahlkraft besitzt: "Die Einbindung der Familie und Freunde ist sensationell und bringt die Förderung auf eine ganz neue Ebene. Toll." (Lehrer/-in nach dem ersten mitgemachten Lernrat) Die Grundideen des Lernrats erwiesen sich also als attraktiv. Die Beteiligten schätzten das in Schule noch nicht verbreitete Klima von Partizipation, Ressourcenorientierung, Adressatenaktivierung und Kooperation. Dass Kinder und jüngere Jugendliche im Kontext Schule selbst zum Motor der eigenen Lernentwicklung und Problembewältigung ermächtigt werden, darf als innovativ gelten.

 

Insgesamt lässt sich eine große Schnittmenge von Konzept, Planung und realem Verlauf feststellen. Das von der wissenschaftlichen Begleitung unter Mitarbeit der Fachkräfte entwickelte Konzept bot Sicherheit für die Durchführung und ermöglichte von Anfang an fachliche Qualität gerade auch durch Standardisierung und Strukturierung. Die erfolgten Konzeptweiterentwicklungen bezogen sich primär auf die Phasen der Vorarbeit und die Umsetzungsbegleitung nach dem Lernrat. Auch Feinjustierungen zum Lernratsverfahren selbst wie zu Zeitmanagement, Gesprächsführung, Zielformulierung erhöhten die Qualität des Lernrats und dessen potentielle Wirksamkeit.
Prinzipiell können alle Pädagog/-innen, die sich das Verfahren angeeignet haben, Lernräte moderieren. Lehrkräfte sollten mit Schüler/-innen, die den Lernrat auswählen, nicht in einem Benotungskontext stehen. Besonders günstig ist, wenn sich zwei Professionelle Moderation und Mitschreiben teilen. Es zeigte sich, dass eine Person den Lernrat an einem Standort nicht alleine tragen kann.

 

Bilanz

Risiken bleiben, zum Beispiel:

  • Schule nimmt das "Geschenk von Schulsozialarbeit" an, engagiert sich aber nicht hinreichend mit Wertschätzung und Lehrermitwirkung. Damit würde der Lernrat eine Nischenveranstaltung "unter ferner liefen" werden.
  • Die Jugendhilfe kann für das Thema des schulischen Gelingens für ihre "Risikokinder" nicht so aufgeschlossen werden, dass dafür konzeptionelle Prioritätssetzungen und damit strukturell Zeitressourcen von Schulsozialarbeit zur Verfügung gestellt werden.
  • Der Lernrat benötigt, wie andere einzelfallorientierte Verfahren auch, Zeit von mehreren Prozessbeteiligten. Aufwand und Ertrag stehen in der Fallbearbeitung u.a. in der Wahrnehmung der Professionellen ggf. in keinem günstigen Verhältnis.

Für die Verstetigung und Verbreitung des Modellprojekts wurden folgende Schritte konzipiert:

An Ganztagsstandorten mit integrierten Pädagogikkonzepten werden neben der Schulsozialarbeit auch ausgewählte Erzieher/-innen für die Moderatorenrolle geworben. Der Träger Pestalozzi-Fröbel-Haus mit seiner anerkannten Ganztagsexpertise und mit seiner Ausbildungsstätte für Erzieher/-innen gilt als geeignete Plattform, diese Aufgabenanreicherung für die Berufsgruppe der Erzieher/-innen zu protegieren.

  • Ein Fachtag hat Professionelle vieler Standorte in der Stadt Berlin mit dem Verfahren vertraut gemacht.
  • Ein in das Internet eingestellter Animationsfilm wurde verfügbar gemacht, der Lust und Interesse erzeugen soll.
  • Eine Broschüre führt in die Grundzüge und den Ablauf des Verfahrens ein.
  • Zudem werden in einem ersten Durchgang 18 Lernratsmoderator/-innen in einer Fortbildung qualifiziert.
  • Schließlich wird eine Fachberatung und ggf. ein Fallcoaching für interessierte Newcomer durch Fachkräfte aus der Modellzeit vorgehalten.