9/2011 - 1/2014 

Prof. Dr. Karlheinz Thimm mit Student/-innen der EHB

Veröffentlichung:
Der Abschlussbericht ist hier abrufbar.

Auftraggeber

Der Auftraggeber möchte ungenannt bleiben (Mäzen). Das Projekt wurde gemeinsam mit Schulen und Trägern der Schulsozialarbeit in Berlin durchgeführt.

Aufgabe

In Schulen ereignen sich Konflikte zwischen Lehrkräften und Schüler/-innen, zwischen Eltern und Lehrkräften und unter Schüler/-innen. Ein möglichst lernhaltiger Umgang mit Konflikten geht mit systematischer Konfliktprävention und mit fachlich günstigen Interventionspraxen einher. Sowohl für ein förderliches Schulklima als auch für das Gelingen von Lernkarrieren und die soziale Bildung in nachschulischer Dimension ist eine reflektierte Konfliktkultur bedeutsam. Im Praxisforschungsprojekt geht es im Schwerpunkt um Schüler-Schüler-Konflikte. Ziele des Vorhabens sind:

  • Untersuchung der „Konfliktlandschaft“ und vertiefte Analyse von Interventionen
  • Entwicklung bzw. Fortschreibung konfliktpädagogisch reflektierter Interventionskonzepte
  • Bestimmung der Rolle von Sozialarbeit an Schule zur Gestaltung der Konfliktkultur

Methode

Das Praxisforschungs- und Praxisentwicklungsprojekt basiert auf Feldforschung an sechs Schulen und soll das Konfliktaufkommen und die Interventionspraxen in Ausschnitten abbilden und untersuchen. Eingesetzt werden besonders ausgebildete Student/-innen (7. Semester Sozialarbeit/Sozialpädagogik an der Evangelischen Hochschule Berlin), die an der Schule ein fünfmonatiges Schulsozialarbeits-Praktikum ableisten („Forschungspraktikant/-innen“). Forschungsmethoden sind:

  • Fragebogenerhebung (Schüler/-innen und Pädagog/-innen)
  • Interviews (Schüler/-innen und Pädagog/-innen)
  • Teilnehmende Beobachtung
  • Fallverlaufsanalysen

 Ergebnisse/Produkte

  • Auswertungsbericht zur schriftlichen Befragung und Konfliktporträts von vier Schulen
  • Auswertungsdialoge und Konzeptentwicklung an den Standorten
  • Handreichung Konflikte und Konfliktpädagogik

Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse

Die Untersuchung wurde an sechs Berliner Sekundarschulen im Zeitraum Oktober 2011 bis März 2012 in den 7., 8. und 9. Jahrgängen durchgeführt. Insgesamt haben an der schriftlichen Befragung 376 Schülerinnen (w=147) und Schüler (m=223) (ohne Angabe=6) sowie 71 Pädagog/-innen (in der Folge auch Professionelle genannt) teilgenommen, davon 57 Lehrer/innen und 14 Sozialpädagog/-innen (w=36; m=34; ohne Angabe=1).

Der qualitative Forschungsteil basiert auf unsystematischer Beobachtung, Fallverlaufsanalysen und Interviews von Professionellen (Lehrkräfte; Schulleitung; Sozialarbeiter/-innen). In die Untersuchung gingen die begleitende Erkundung von 34 Fällen (Konflikte unterschiedlicher Art und Länge) und die Auswertung von 15 Interviews ein. Die Interviewpartner/-innen wurden gemäß Position und Funktion, Kontakt zum Thema und Bereitschaft von den studentischen Forschungspraktikant/-innen ausgewählt. In der Folge präsentieren wir aus der Fülle der Befunde einige zentrale Erkenntnisse.

70,4 % der befragten Professionellen meinen, dass es Schüler-Schüler-Konflikte „sehr oft“ oder „oft“ gibt. 42 % der Schüler/-innen geben „sehr oft“ oder „oft“ an. Dabei stehen die Konfliktformen Provozieren und Beleidigungen vorne. Die weiteren Plätze nehmen bei den Pädagog/-innen und den Schüler/-innen Gewalt und Wegnehmen von Sachen ein. 70,5 % der Professionellen meinen, dass Lehrkräfte Konflikte „sehr oft“ oder „oft“ mitbekommen und zu 59,2 % „(sehr) oft“ reagieren. 60,6 % der befragten Erwachsenen sagen zudem, dass die Sozialarbeit Konflikte „(sehr) oft“ mitbekommt und zu 84,5 % dann „sehr oft“ / „oft“ reagiert.
Schüler/-innen schreiben den Pädagog/-innen folgendes zu (Angabe „sehr oft“ oder „oft“): häufiges Mitbekommen durch Lehrkräfte zu 26,8 %; häufiges Reagieren Lehrkräfte zu 41,5 %; häufiges Mitbekommen durch Sozialarbeiter/-innen zu 24,2 %; häufiges Reagieren Sozialarbeiter/-innen zu 43,3 %. Die Schüler/-innen geben damit an, dass die Pädagog/-innen viel weniger mitbekommen als diese selbst meinen.

Welche verwendeten Interventionsformate werden als wirksam eingeschätzt? Gespräche der betroffenen Mädchen und Jungen mit Lehrkräften werden zu 91,5 % von befragten Professionellen als „sehr wirksam“ oder „wirksam“ eingeschätzt, Gespräche mit der Sozialarbeit zu 88,8 %, solche mit der Schulleitung zu 88,7 %, ein Schicken in die Schulstation zu 83,6 %. Auch die Einbeziehung der Eltern gilt zu 85,7 % als „(sehr) wirksam“.

Schüler/-innen favorisieren als „(sehr) wirksam“ zu 74,8 % das Einzelgespräch mit Lehrkräften, das Gespräch mit der Schulleitung wird zu 68,9 % und das mit Sozialarbeiter/-innen zu 64,6 % als „sehr wirksam“ oder „wirksam“ bewertet. Im 7. Jahrgang wird im Standortdurchschnitt den Anrufen bei Eltern die höchste Wirksamkeit zuerkannt; diese prioritäre Einschätzung findet sich für die folgenden Klassenstufen nicht. Allerdings sehen stattliche 52 % aller Mädchen und Jungen in solchen Anrufen eine „(sehr) wirksame“ Intervention.
Einzelgespräche sind generell für alle Befragten (Schüler/-innen und Pädagog/-innen) die wichtigste Intervention, relativ unabhängig davon, wer sich intensiver kümmert. Professionelle schätzen Wirksamkeiten von Formaten generell höher als Schüler/-innen ein. Zwar werden, so zeigen die obigen Antworten, Erwachsene standortübergreifend eher ungern von den befragten Jungen und Mädchen in die Schüler-Schüler-Konflikte hineingeholt. Tatsächlich sprechen Schüler/-innen den Professionellen aber durchaus Wirksamkeit zu, vermutlich mit Blick auf schwerere bzw. konsequenzreiche Konflikte.

Schließlich interessierten Verbesserungsvorschläge für die Interventionspraxis. Die meisten Nennungen bei den Pädagog/-innen gibt es dafür, dass ein schnelleres, direktes Eingreifen mit Folgen für die Streitmacher/innen die beste Möglichkeit bei Konflikten ist (alle Standorte 84,5 %). Als zweite Verbesserungsoption sehen die befragten Professionellen die Zusammenarbeit mit Eltern (80,3 %). Für die Gesamtheit der Pädagog/-innen steht Kooperation mit dem Präventionsbeauftragten der Polizei mit 77,5 % an dritter Stelle. Günstigere Regelpraxen werden ebenfalls recht hoch gewichtet (76,1 %). Insgesamt sehen die Professionellen für konfliktpädagogische Verbesserungen Reserven an ihren Schulen.

Für die Schüler/-innen ist ebenso ein schnelleres Eingreifen mit Folgen für unproduktiv Streitende die günstigste Reaktion (52,4 %). Auf dem zweiten Platz liegt das vorherige Ankündigen von Konsequenzen bzw. Strafen (47,1 %). Mädchen versprechen sich etwas stärker Verbesserungen durch eine veränderte Regelpraxis, bei Jungen steht die Einbindung der Polizei vergleichsweise ein wenig höher im Kurs.

Ein Fazit: Professionelle sehen mehr Konflikte als Schüler/-innen und sie glauben zudem, mehr Konflikte mitzubekommen als Schüler/-innen dies für sie einschätzen. Schüler/-innen nehmen Erwachsene von sich aus nicht kräftig als Unterstützung in Anspruch. Wenn es Konflikte gab, sind Erwachsene aber eine relevante Klärungsadresse für Vier-Augen-Gespräche (Entlastung; Schutz; Vermeidung von Sanktionen …).

Qualitativ lassen sich zwei Arten von Konfliktinterventionen unterscheiden:

  • Konfliktintervention ersten Grades. Ziel einer situativen Konfliktintervention ist es, auf ein Verhalten oder auf eine Situation symptomverändernd zu reagieren.
  • Konfliktintervention zweiten Grades. Es wird eine ursachenorientierte Konfliktaufarbeitung vorgenommen. Gründe für ein Verhalten werden analysiert und es werden mögliche Lösungswege, ggf. auch in mehreren Anläufen erarbeitet.

Welchen Stellenwert räumen Lehrkräfte dem Konfliktthema ein? Für die meisten Akteure an der Schule sind Schüler-Schüler-Konflikte ein Nebenschauplatz, dem sie sich situativ mehr oder weniger engagiert widmen. In dem (Vor)Feld weniger schwerwiegender Konflikte ist Schule als Kontext für Einschreiten nicht zwangsläufig vorgesehen, sofern der Schüler-Schüler-Konflikt nicht zum Schüler-Schule-Konflikt wird bzw. geworden ist. Eher selten bitten Schüler/-innen selbst um Hilfe, um eine drohende Eskalation zu vermeiden oder als Opfer bzw. Täter Nutzen zu erlangen. Viele Konflikte zwischen Schüler/-innen werden nicht beachtet und klären sich bestenfalls von selbst. Selbstverständliches Gehör finden die Konflikte, die eskaliert sind, zu eskalieren drohen bzw. Konflikte, die zwischen Schüler/-innen und Lehrer/-innen stattfinden. Der Massivitätsgrad der Beeinträchtigungen dürfte entscheidend dafür sein, ob interveniert wird.

Betrachtet man Schule als sozialen Raum, sind die Schüler/-innen in diesem Milieu bisher größtenteils auf sich alleine gestellt, da Moderation, Unterstützung und Führung beim Erlernen des sozialen Umgangs miteinander in einem zwar durch Grundregeln bewehrten, aber jenseits der Spitzen weitgehend nicht-kultivierten Rahmen stattfinden, wobei das Engagement von einzelnen Klassenlehrer/-innen eine gewisse „Kulturbastion“ zu sein scheint. Das Fehlen eines verbindlichen Katalogs mit wenigen Grundregeln und einer Handreichung für einen berechenbaren, einheitlicheren Umgang mit Konflikten wurde an den Schulen weithin bemängelt. Interveniert wird da, wo Konflikte stattfinden und ein Einzelner entscheidet, dass die Situation für die Schüler/-innen nicht mehr in Eigenregie lösbar ist, eine Intensitäts- und Austragungsformschwelle überschreitet bzw. den Schulbetrieb intolerabel stört. Insgesamt zeigt sich eine Vielfalt von Bearbeitungspraxen zum Umgang mit Schüler-Schüler-Konflikten durch Lehrkräfte, die stark von der Professionsauffassung, der Wahrnehmung der Organisation Schule (z. B. Umgang mit verbindlichen Verabredungen) sowie von persönlichen (z. B. Umfang der restlichen Arbeitszeit bis zum Ruhestand) und situativen Faktoren (z. B. Kennen der Schüler/-innen; „Tagesform“; Anzahl der akuten „Baustellen“ …) geprägt ist.

Kurz: Konflikte erst aufzugreifen, wenn sie im Schulbetrieb als Ablaufstörung auftreten, ist aus der Perspektive eines funktionsinteressierten Schulbetriebes, der sich als Vermittlungsinstanz formalen Wissens versteht, zwar nachvollziehbar. Die „Konfliktabstellung“ gewinnt von hier womöglich alleinige Priorität. Die Bildungs- und Sozialisierungsfunktion von Schule könnte aber auch damit einhergehen, dem Umgang mit Konflikten präventiv und interventiv einen neuen Stellenwert im Rahmen der pädagogischen Schulentwicklung zu geben.

Welche Konsequenzen werden vorgeschlagen? Grundsätzlich plädieren wir für klare Präventionsangebote und Interventionsregularien am Konfliktthema. Für situative Konfliktinterventionen ist die Lehrerschaft im Rahmen ihrer Aufsichts- und Fürsorgepflicht sowie durch ihre dauerhafte Nähe zu den Schüler/innen im Unterricht und während der Pausenaufsichten prädestiniert. Die Schulsozialarbeit ist in der Regel eher im nachbereitenden bzw. nachsorgenden Konfliktmanagement z. B. durch Mediation tätig. Zudem obliegt ihr, konzeptionell präventiv zu arbeiten, z. B. mittels der Durchführung von Kursen des Sozialen Lernens, aber auch durch Projekte, die die Identifizierung und Partizipation von Schüler/-innen befördern. Der Schulsozialarbeit werden hinsichtlich nachhaltiger Konfliktlösungen bessere Möglichkeiten zugeschrieben. Zum einen hat die Sozialarbeit, bedingt durch ihre Aufgabenbereiche und Zuständigkeiten, strukturelle Voraussetzungen, um sich die nötige Zeit für alle Beteiligten und die Arbeit an und mit ihren Sichtweisen zu nehmen. Zum anderen hat sie aber auch die fachlichen Kompetenzen, um die Arbeit bspw. mit schwierigen Schüler/-innen und/oder „Wiederholungstäter/-innen“ zu erbringen.

Grundsätzlich sollte ein Gesamtkonzept in Zusammenarbeit mit allen Akteuren erarbeitet werden. Vorrangig ist die Herstellung einer Situation an der Schule, die einen Großteil des Schulpersonals dazu bewegt, verbindlich und gemeinsam an den Schulstrukturen zu arbeiten. Dafür müssen zeitliche und materielle Ressourcen sowie Knowhow zum Konfliktthema und darüber hinaus zu Veränderungsprozessen in pädagogischen Organisationen zur Verfügung gestellt werden. Reserven zur Verbesserung der Qualität von Konfliktkulturen liegen in folgenden Bereichen:

  • Leitbild und pädagogische Schulentwicklung
  • Bestandsaufnahme zu Konflikthäufigkeit und -intervention und Bewertung
  • Konfliktkonzeptentwicklung
  • Vernetzung der Fachkräfte und Projekte an der Schule
  • Implementierung von systematischen Sozialen Lernen an der Schule
  • Stärkere Beachtung von (Cyber-)Mobbing

Für die Interventionspraxis auf der unmittelbaren Handlungsebene möchten wir folgende Empfehlungen aussprechen. Die Beteiligten sollten sich über Zuständigkeiten, Orte und Arten der Intervention so verständigen, dass berechenbare und verlässliche Praxen wahrscheinlicher werden. Voraussetzung ist, unerwünschtes Verhalten, das zu Interventionen führt, zu umreißen. Deutlich wird auf der Ebene von Intervention, dass Handeln sich auf die Wirkungsräume Person, Klasse, Schule und außerschulische Umwelten (Peers; Familie) erstrecken kann. Wenn bei Schüler-Schüler-Konflikten nicht weggeschaut, sondern hingesehen wird, gewinnen Schule und Schüler/-innen. Konflikte müssen zeitnah geklärt werden, da sonst der Abmachungsdruck schwindet bzw. informelle Erledigungsweisen, ggf. auch mit destruktivem Druck, wirksam werden. Konfliktpädagogische Gelingensfaktoren sind:

  • Gestaltung von Schule als schülernaher, erfreulicher und mitgestalteter Ort
  • Erarbeitung und Wirksam-Machen von Regeln und Grenzen
  • Frühe und konsequente Intervention bei Konflikten
  • Stärkung der Konfliktkompetenzen einzelner Schüler/-innen
  • Zusammenarbeit mit Eltern