2010

Dr. Cengiz Deniz


Einleitung
In aktuellen Untersuchungen über das Vereinswesen bzw. ehrenamtliche Engagement werden die Migranten weitestgehend nicht spezifisch berücksichtigt. Eine spezifische Berücksichtigung von Migranten soll die Segmentierung in der Gesellschaft nicht stärken, sondern den sozialen, kulturellen und demografischen Wandel in der Gesellschaft transparent machen.

Das Vereinswesen ist ein relevanter Bestandteil zivilgesellschaftlicher und demokratischer Beteiligung. Durch den Migrationsprozess gibt es spezifische Erfahrungskontexte, die nur über die subjektive Lebenssituation der Befragten erfahrbar gemacht werden können. Mitwirkung in den gesellschaftlichen Institutionen ist ein relevanter Bestandteil gesellschaftlicher Integration.

Auftraggeber
Robert Bosch Stiftung GmbH, Stuttgart; Deutsch-Türkisches Forum, Kreis und Stadt Offenbach

Vorgehen/Methode
Bei der Durchführung wurden quantitative und qualitative Forschungsmethoden angewandt. Für jeden Forschungsbereich, d. h. Eltern, Jugendliche und Vereine, wurde ein spezifischer Fragebogen entwickelt. Dabei wurde jedesFeld sowohl quantitativ als auch qualitativ separat erforscht.

Der Entwicklung der Fragebögen wurde ein Informationsgespräch bei allen drei Forschungsgruppen vorgeschaltet. Um potenziellen sprachlichen Hindernissen vorzubeugen, wurden für die Eltern beide Fragebögen ins Türkische übersetzt. Die Auswertung des standardisierten Datenmaterials erfolgte mit dem Datenprogramm SPSS. Die Leitfadeninterviews wurden auf Tonband aufgenommen, transkribiert und zur Unterstützung des quantitativen Datenmaterials herangezogen.

Folgende Probanden wurden quantitativ befragt: 250 Vereine haben den Fragebogen postalisch erhalten. 177 Jugendliche und 136 Eltern/Elternteile wurden durch unterschiedliche Zugangswege gebeten, den jeweils für sie entwickelten Fragebogen auszufüllen. Ergänzend wurden fünf Vereinsvertreter, vier Eltern/Elternteile und sechs Jugendliche interviewt.

Die Studie sollte folgende Fragestellungen erörtern:

  1. Erfassung der Erwartungen und Motivation von türkischstämmigen Bürgern, insbesondere von Kindern und Jugendlichen, sich in deutschen Vereinen zu integrieren.
  2. Herausarbeitung und Benennung von Hemmschwellen, die eine Integration von türkischstämmigen Familien, Kindern und Jugendlichen in deutschen Vereinen verhindern.
  3. Aufzeigen von Chancen und Risiken wie türkischstämmige Bürger sich in deutschen Vereinen engagieren können und wie sich deutsche Vereine diesbezüglich öffnen können.

Ausgewählte Ergebnisse
Türkische Eltern: Es lässt sich insgesamt eine Unterrepräsentanz türkischer Eltern in deutschen Vereinen zum Erhebungszeitpunkt feststellen. Aus Sicht der Eltern sind u. a. folgende Gründe ausschlaggebend:

  • Sie kennen die Vereine nicht und wissen wenig über deren Aktivitäten.
  • Sie haben keine Kenntnisse darüber, über welches Angebot die Vereine verfügen.
  • Es fehlt eine persönliche Vereinssozialisation, um im Verein aktiv mitzuarbeiten, d. h. in ihrem biografischen Werdegang sind sie mit Vereinen wenig in Berührung gekommen.
  • Die Vereine sind Türken gegenüber verschlossen.


Vereine gewinnen neue Mitglieder hauptsächlich durch persönliches Ansprechen. Bei der Frage, ob türkische Eltern persönlich angesprochen worden sind, haben 57 % mit "nein" geantwortet. Die deutschen Vereinsvertreter sollten türkische Familien persönlich ansprechen, um sie für die Vereinsaktivitäten zu gewinnen, denn die Befragung hat ergeben, dass sie offen sind für eine solche Begegnung.

In diesem Kontext nehmen die Eltern auch sich selbst in die Pflicht. 69 % von ihnen haben geäußert, dass sie sich bemühen sollten, in die Vereine zu gehen oder mit ihnen in Kontakt zu treten.

Türkische Jugendliche

  • 58 % der befragten Jugendlichen besuchen nie deutsche kulturelle Vereine und zu 47 % nie türkische kulturelle Vereine.
  • 42 % der befragten Jugendlichen gehen nie in einen deutschen Sportverein, während 80 % der Jugendlichen angeben, nie in einen türkischen Sportverein zu gehen.
  • Während 34 % oft in einem deutschen Sportverein aktiv sind, besuchen nur 27 % türkische Sportvereine.


Es handelt sich hierbei um allgemeine Angaben über die Aktivität im Verein. Damit ist der deutsche Sportverein der "Renner" unter den Vereinsbesuchern, gefolgt von Personen, die keinen Verein besuchen; an dritter Stelle werden türkische Sportvereine genannt.

Über die geschlechtsdifferenzierte Nutzung der Vereinsangebote ist Folgendes zu berichten:

  • Die Zahl der weiblichen Jugendlichen, die keinen Verein aufsuchen, liegt bei 35 % Prozent, während bei männlichen Jugendlichen diese Angabe bei 11 % liegt.
  • Deutsche Vereine werden mit 38 % eher von männlichen türkischen Jugendlichen besucht als von weiblichen Jugendlichen, hier liegt der Anteil bei 34 %.
  • Auch in türkischen Vereinen sind männliche Jugendliche mit 32 % im Vergleich zu türkischen weiblichen Jugendlichen mit 24 % in der Verteilung quantitativ überlegen.


Die Anwerbepraxis sieht wie folgt aus:

  • Die Anwerbungsdynamik scheint eher in sozialen Gruppen und über Gruppenzugehörigkeit positiv zu funktionieren. 30 % der befragten Jugendlichen, die in einen deutschen Verein gehen, wurden von ihren Freunden angeworben.
  • 22 % haben die Eltern motiviert, in die Vereine zu gehen. Nur 13 % wurden von Vereinsvertretern angeworben. Es ist eine fehlende intensive Bemühung von Vereinsvertretern zu verzeichnen, um türkischeJugendliche für die Vereine zu gewinnen. Die Jugendlichen haben in den Interviews kritisiert, dass die Vereine sich den türkischen Familien, also ihren Familien, nie vorgestellt haben.


Die Vereinsbesucher sind mit den Vereinen im Allgemeinen überwiegend zufrieden. Am meisten sind sie mit dem deutschen Sportverein zufrieden. 71 % der befragten Jugendlichen haben gute Kontakte zu anderen Vereinsmitgliedern. Es wird überwiegend von guten Kontakten berichtet.

Deutsche Vereine
Ein Vereinsvertreter stellt die Frage, warum und wieso zum Anwerben türkischer Jugendlicher spezielle Maßnahmen durchgeführt werden sollen, da "sie alle Sport treiben möchten". Insgesamt wird vom vollen Ausschöpfen der Vereinsangebote berichtet, insbesondere von deutschen Nutzern. Deshalb wird kein weiterer Bedarf nach Rekrutierung von türkischen Jugendlichen gesehen.

Derselbe Vereinsvertreter kritisiert, dass ausländische Eltern am Vereinsgeschehen nicht aktiv teilnehmen, und zwar weder am Fahrdienst noch bei anderen Aktivitäten.

Während die Vereinsvertreter dieses Problem deutlich artikulieren, wurde von den Eltern signalisiert, dass sie bereit wären, konkrete Arbeiten wie Fahrdienste zu übernehmen, wenn man sie einweisen würde. Der fehlende kommunikative Austausch zwischen Eltern und Vereinsvertretern führt dazu, dass man von den realen Problemen nicht erfährt und dass die Bereitschaft, dieses Problem zu lösen, gar nicht erkannt wird.

Die Vereine machen zwar viel Pressearbeit, aber gerade türkische Familien werden von den Lokalzeitungen nicht erreicht, da die meisten diese Medien als Informationsquelle nicht nutzen.

Über kritische Meinungen türkischer Eltern bezüglich Vereineswesen wird selten im Verein reflektiert.

Für 73 % der befragten Vereinsvertreter hat eine interkulturelle Öffnung keine Bedeutung. Diese Einstellung könnte ein Grund dafür sein, weshalb ein Großteil der deutschen Vereinsvertreter keine direkte Kommunikation zur türkischen Bevölkerung pflegt. Ein Vereinsvertreter konstatierte: "Spezielle Nationalitäten sind kein Thema. Bei uns kann jeder Tischtennis spielen." Die Eltern haben allerdings die Anonymität der Vereine als Beitrittshindernis hervorgehoben.

Eine Sensibilisierung der Vereinsvertreter ist aber unabdingbar, da die Vereine nur dadurch ihrem zivilgesellschaftlichen Auftrag gerecht werden können. Dass 31 % der befragten Vereinsvertreter angeben, die Wünsche von türkischen Jugendlichen nicht zu berücksichtigen, und 35 %, nicht zu wissen, ob sie dies tun, deutet darauf hin, dass die Vereine eher verschlossen sind und nicht anstreben, sich an neue Zielgruppen, z. B. türkische Familien zu wenden.

Je allgemeiner die Fragen an die Vereinsvertreter gestellt sind, umso höher sind die positiven Bekenntnisse. Dieses Bild wandelt sich allerdings je spezifischer die Nachfragen werden. 85 % beantworten beispielsweise die Frage "Stehen Sie einer Öffnung Ihres Vereins für türkische Jugendliche generell positiv gegenüber?" eindeutig mit "ja". Mit diesem Bekenntnis werden jedoch keine Verpflichtungen eingegangen. Diese Zustimmung ändert sich, wenn es um vollzogene konkrete Handlungen geht. Nur 8 % geben an, im Rahmen ihrer Bemühungen um neue Mitglieder türkische Jugendliche direkt angesprochen zu haben. 35 % geben an, dass sie türkische Jugendliche nicht direkt angesprochen haben.

Vereinsvertreter gehen irrtümlicherweise davon aus, dass die türkischen Eltern genauso gut über das Vereinswesen informiert seien wie die deutsche Bevölkerung. Deswegen scheinen ihnen spezifische Bemühungen nicht erforderlich zu sein, um türkische Jugendliche für die Vereine zu gewinnen.