2006 / 2007

Prof. Dr. Peter Sauer † / Peter Wißmann

Veröffentlichung:
Neben dem Evaluierungsbericht wurden eine Reihe von Publikationen verfasst. Eine Zusammenfassung wesentlicher Ergebnisse aus ganz Deutschland findet sich in: Sauer, Peter; Wißmann, Peter: Niedrigschwellige Hilfen für Familien mit Demenz. Frankfurt 2007

Auftraggeber
Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales durch Paritätischer Wohlfahrtsverband, Landesverband Berlin e. V.

Aufgabenstellung der Evaluation
Nach dem Pflegeleistungs-Ergänzungsgesetz (PflEG) können seit 2002 Pflegebedürftige mit er-heblichen Betreuungsaufwand zusätzliche Leistungen von 460,- € pro Jahr in Anspruch neh-men. Dieser Betrag ist zweckgebunden einzusetzen für Leistungen von Einrichtungen der Tages- oder Nachtpflege, der Kurzzeitpflege, der zugelassenen Pflegedienste und der nach Landesrecht anerkannten niedrigschwelligen Betreuungsangebote. Gemäß diesen gesetzlichen Vorgaben wurden im Land Berlin eine Vielzahl von solchen niedrigschwelligen Angeboten anerkannt. Da die Anerkennungsbescheide unbefristet erteilt werden, konnten nur bedingt umfassende Infor-mationen über die tatsächliche Inanspruchnahme der Leistungen bzw. das Feedback aus Sicht der Leistungsempfänger erfasst werden. Aus der Sicht der Kostenträger konnten inhaltliche Aspekte wie zum Beispiel die Frage danach, welche Art von Leistungen wie häufig von wem abgerufen oder erbracht werden, nicht beantwortet werden.

 

Aus diesen Gründen sollte durch die Evaluierung erfasst werden

  • in wieweit das PflEG dazu beiträgt, die Versorgung und Betreuung von Menschen mit einem erhöhten Betreuungsaufwand optimaler als bisher zu gestalten
  • dabei soll insbesondere erfasst werden, woher die betroffenen Pflegebedürftigen bzw. ihre Angehörigen von der Möglichkeit der Inanspruchnahme dieser Zusatzleistung erfahren haben
  • in welchem Umfang die Leistung nachgefragt und
  • von welchen sozialen Angeboten und Projekten die Leistungen erbracht werden

Des Weiteren sollen ehrenamtlich Tätige und Angehörige bezüglich ihrer Erfahrungen mit dem PflEG befragt werden.

Methodischer Ansatz
Vergleichbare (landesweite) Evaluierungen der Leistungen zum PflEG lagen zu Beginn der Untersuchung nicht vor. Neben der Literatursichtung und –bewertung fußte das methodische Vorgehen deshalb im Wesentlichen auf einer schriftlichen Befragung der potentiellen Anbieter  mit unterschiedlich aufgebauten Fragebögen. Der Rücklauf lag zwischen 30 % (ambulante Pflegeeinrichtungen) und knapp 90 % (niedrigschwellige Angebote). Zusätzlich wurden Inten-sivinterviews mit einer Reihe dieser Anbieter geführt, sowohl vor als auch nach der schrift-lichen Befragung. Darüber hinaus wurden Funktionsträger (Helferinnen und Helfer und Ko-ordinatoren), Nutzer (Familienangehörige von Pflegebedürftigen) und Experten befragt. Die vorläufigen Ergebnisse wurden mit Experten aus verschiedenen Bereichen diskutiert.

Wesentliche Ergebnisse
Die Erhebungen des medizinischen Dienstes der Krankenversicherung zeigen, dass im Bundes-durchschnitt bei den Erstbegutachtungen mit Empfehlungen einer Pflegestufe etwa 23 % der im häuslichen Bereich versorgten Pflegebedürftigen Anrecht auf diese Leistungen nach dem § 45 a haben.  Legt man die sich aus der Untersuchung ergebenen und hochgerechneten Zahlen zu-grunde, dann nehmen in Berlin ca. 1/3 der Pflegebedürftigen  diese Leistungen wahr.

An der Versorgung mit diesen zusätzlichen Betreuungsleistungen sind in Berlin die profes-sionellen Anbieter (ambulante Pflegeeinrichtungen, Einrichtungen der Tages- oder Kurzzeit-pflege) mit ca. 2/3 des oben genannten Umfangs beteiligt. Ca. 1/3 entfällt auf die niedrigschwel-ligen Anbieter.

Bei den niedrigschwelligen Anbieter und den ambulanten Pflegediensten steht die Einzelbetreu-ung im häuslichen Bereich im Vordergrund. Danach folgen Gruppenangebote für Pflegebedürf-tige. Gruppenangebote für Angehörige, bei gleichzeitiger Betreuung der Pflegebedürftigen, sind eher selten. Ähnliches gilt für Freizeitaktivitäten und Urlaubsreisen.

Bei den niedrigschwelligen Angeboten kann ein deutliches Auseinanderfallen bei der Träger-struktur (einige wenige Anbieter halten viele Angebote vor, viele Träger halten nur ein Ange-bot vor), der Förderungsstruktur (viele Organisationen haben ein gefördertes Angebot, eine Organisation hat viele geförderte Angebote), des Umfangs der Anzahl der Helfer (von einigen wenigen Helfern bis 20 und mehr), von Pflegebedürftigen (wenige Pflegebedürftige bis über 20/30), der Angebotsstruktur (eine Angebotsform/viele) und der Entgeltstruktur (3 bis 5 € pro Betreuungsstunde im häuslichen Bereich bis über 15 €) feststellen. Auch bei der „Honorierung“ der Helferinnen und Helfer ist ein ähnliches Auseinanderfallen feststellbar (pauschale Auf-wandsentschädigung von 15 € pro Monat bis 5 € pro Betreuungsstunde).

Bei den professionellen Anbietern ist ein gespaltener Angebotsmarkt feststellbar. Der Marktan-tritt liegt bei knapp 60 % (ambulante Pflegeeinrichtungen) bzw. 53 % bei Einrichtungen der Tages- oder Kurzzeitpflege. Für die meisten Anbieter sind diese zusätzlichen Betreuungsleis-tungen ein Nischenprodukt für wenige Pflegekunden. Ein wichtiges Marktelement ist es für solche Anbieter, die ihre Leistungen für ambulant betreute Wohngemeinschaften erbringen. Die Nutzung freier Personal-, Raum- und Organisationskapazitäten ist das wesentlichste Zugangs-motiv. Die Leistungen werden im Wesentlichen durch vorhandenes Personal erbracht, zum Teil wird sich auch Honorarkräften (Wohngemeinschaften) bedient. Die Ergänzung des professionel-len Angebotes durch niedrigschwellige Angebote ist bei einem großen Träger sehr ausgeprägt.

Niedrigschwellige Angebote sind insbesondere dort erfolgreich, wo sie aufgrund der Ausrichtung der Organisation einen Zugang zu Pflegekunden haben oder über Kooperationsbeziehungen ver-fügen, ein Zugang zu Helferinnen und Helfern besteht und die Trägerorganisationen die Konzep-tionsentwicklung und den Aufbau von solchen niedrigschwelligen Angeboten ermöglicht. Die finanzielle Förderung des Landes und der Pflegekassen erleichtert den Aufbau solcher Angebote.

Die grundsätzlichen Probleme sind im professionellen Bereich und bei den niedrigschwelligen Anbietern vergleichbar. Die Informationsversorgung aller Beteiligten  (Pflegebedürftige/Ange-hörige und der Akteure im Gesundheits- und Sozialbereich) ist das gravierendste Problem. Dies ist eingebettet in die öffentliche Wahrnehmung und Diskussion von Erscheinungen wie Demenz. Dort, wo bereits Verbindungen zu (potentiellen) Pflegekunden existiert, gestaltet sich die Infor-mationsversorgungen einfacher und gibt den professionellen Anbietern Standortvorteile. Der Zugang zu den Pflegebedürftigen, die solche Leistungen in Anspruch nehmen können, ist insbe-sondere für die niedrigschwelligen Anbieter schwieriger zu bewältigen. Alle Anbieter klagen über die komplizierten Antrags- und vor allem Abrechnungsmodalitäten, da hier keine Sach-leistung vorliegt, sondern den Pflegekunden diese Leistungen in Rechnung gestellt,  diese sie bei der entsprechenden Pflegekassen einreichen. Der Umfang der Leistungen stehe für die Anbieter in keinem Verhältnis zu dem bürokratischen Aufwand. Dazu kommt noch, dass alle Leistungs-anbieter einen erheblichen Aufwand für die Information und Beratung der Pflegekunden tätigen müssen.

Auch wenn dann nur ein Teil der berechtigten Pflegebedürftigenbisher diese Leistungen in Anspruch nahmen, so ist mit dem PflEG ein erster Schritt getan, dem erhöhten Betreuungs-bedarf bei Menschen mit gerontopsychiatrischen Veränderungen Rechnung zu tragen. Das bisher beschränkte Budget hat keinen besonderen Impuls auf die Nachfrage und auf das Angebot solcher Leistungen ausgeübt, trotzdem lassen sich eine Reihe strukturbeeinflussende Effekte nachweisen, wie die Klärung der administrativen Voraussetzungen, die Integration niedrig-schwelliger Angebote in umfangreichere Programme in einzelnen Bundesländern, die Ausein-andersetzung mit zusätzlichen Betreuungsleistungen für Menschen mit Demenz durch Wohl-fahrtsverbände, einzelne Träger und Einzelpersonen, die Schaffung von Angebotstrukturen und Unterstützungsstrukturen sowie erste Erfahrungen in Form von Berichten, Evaluierungen und Publikationen. Entsprechend kann die Zeit seit der Einführung des PflEG als „Erprobungs- oder Vorphase“ bezeichnet werden.

Mit der Novellierung des SGB XI und der deutlichen Erhöhung der Betreuungsleistungen auf 100 bzw. 200 € pro Monat, der Öffnung dieser Leistungen auch für Personen der so genannten Pflegestufe 0, das Zusammenfassen von Ansprüchen und die Erhöhung der finanziellen För-derung auf insgesamt 50 Millionen und die neu eingeführte zusätzliche Betreuung von Pflegebe-dürftigen Heimbewohnern mit erheblichen Bedarf an allgemeiner Beaufsichtigung und Betreuung können in der Zukunft zu einer wesentlich besseren Versorgung der Menschen mit solchen gerontopsychiatrischen Veränderungen führen.